Das Franziskusmarterl bei Wackersdorf. 3D-Scan eines Objekts des Widerstands

Wie vielfältig handgemachte Gegenstände sein können und in wie vielen verschiedenen Kontexten sie eine Rolle spielen, wurde dem Team des Projekts hand.gemacht bei einer Recherche zu den Protesten gegen die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage bei Wackersdorf vor Augen geführt. In den 1980er-Jahren bildete sich in der Oberpfalz eine vehemente Widerstandsbewegung gegen das Vorhaben der bayerischen Staatsregierung um den Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß und der „Deutschen Gesellschaft für die Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen“.1 Das Projektteam führte nun im Freilandmuseum Oberpfalz ein Zeitzeugengespräch mit dem damals amtierenden Schwandorfer Landrat Hans Schuierer (SPD), mit Wolfgang Nowak, einem der führenden Köpfe der 1981 in Schwandorf gegründeten „Bürgerinitiative gegen die Errichtung einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage e. V.“, sowie mit Anton Eiselbrecher, dem Ortsheimatpfleger Wackersdorfs.2 Zu den zentralen Objekten des Widerstands ist das sogenannte „Franziskusmarterl“ im Taxöldener Forst zu zählen, welches in den Fokus des hand.gemacht-Teams rückte und dessen Geschichte und Stellenwert im Zentrum dieses Beitrags stehen soll.

Das Franziskusmarterl im Taxöldener Forst – in Eigenleistung erbaut

Im September 1984, vor 40 Jahren, begannen die Bauarbeiten für das Marterl. Dass man ausgerechnet einen religiösen Bildstock errichtete, ist kein Zufall, sondern verschiedenen Faktoren geschuldet. So wurde einerseits die lokale Protestbewegung wesentlich von der christlich geprägten bürgerlichen Mitte getragen. Die Pfarrer Leo Feichtmeier, Richard Salzl und Andreas Schlagenhaufer gelten als Schlüsselfiguren des christlichen Widerstands gegen die WAA. Andererseits bedurfte es für ein solches Kleindenkmal keiner Baugenehmigung, die ja von behördlicher Seite verwehrt werden hätte können3 – und auch Zusammenkünfte zur Andachtsfeier durften hier ohne Anmeldung stattfinden4.

Das Franziskusmarterl ist als Gemeinschaftswerk anzusehen, an dessen Entstehung viele Personen beteiligt waren – angefangen beim Amberger Architekten Dieter Meiller über den Maurer Wilfried Sommer bis hin zu zahlreichen weiteren Freiwilligen, die etwa den Bau des Fundaments stemmten. In puncto Material griffen die Akteure auf Spenden zurück. Wolfgang Nowak erzählt, er sei „Zulieferer von dem Marterl“ gewesen, denn er habe „zu Hause ein Haus gebaut und habe einen Sand gehabt und Steine und ein Wasserfass und so und einen Anhänger“5. Weitere Baustoffe bezog man von anderen Baustellen. Plastik, so Nowak, sei dabei nicht verarbeitet worden.

Patrozinium und Segnung des Franziskusmarterls

Nach wenigen Wochen stand das Marterl – und das wurde entsprechend gefeiert, wie Wolfgang Nowak berichtet: „Dann haben wir eine Einweihung gemacht, am 30. September. 1000 Kücheln habe ich gekauft […], Bänke aufgestellt, eine Feier gemacht, Musik gespielt, ,Sulzbacher Klarinettenmusi‘ – ohne Ende also gefeiert. Da haben wir uns gefreut.“6 Die Wahl des Datums orientierte sich am Gedenktag des Hl. Franziskus, der auf den 3. bzw. 4. Oktober fällt. Warum genau dieser Schutzpatron für das Marterl auserkoren wurde? Franz von Assisi wird mit einer asketischen Lebensweise und vor allem mit einer außerordentlichen Naturverbundenheit assoziiert. Um die Bewahrung der Schöpfung, der Heimat für kommende Generationen, vor allem aber um das gesundheitliche Wohl der Menschen ging es auch den Akteuren vor Ort.7

Das Franziskusmarterl als Treffpunkt und Anlaufstelle

Den enormen Stellenwert des Franziskusmarterls innerhalb des Widerstands gegen die WAA Wackersdorf unterstrich Altlandrat Hans Schuierer:

„Das hat eine ganz wesentliche Bedeutung gehabt, denn wir sind natürlich angewiesen gewesen auf den Zulauf, dass Leute gekommen sind. Und dieser christliche Widerstand hat uns sehr viele Teilnehmer gebracht.“8

Hans Schuierer, Altlandrat von Schwandorf
Zahlreiche Anhänger der Protestbewegung gegen die WAA Wackersdorf trafen sich in den 1980er-Jahren am Marterl, um Andachten zu feiern (Foto: BI Schwandorf).

Die sonntäglichen Andachten und Gottesdienste wurden insbesondere für die christlich geprägte und der Kirche nahestehende Bevölkerung aus der näheren Umgebung zum Anziehungspunkt. Aber auch Demonstrierenden aus ganz Deutschland diente das Marterl als Anlaufstelle. Mehrere hundert Personen trafen sich dort jede Woche, um zuerst eine Andacht zu feiern und anschließend gemeinsam in Form der sogenannten „Sonntagsspaziergänge“ zum Bauzaun zu wandern. Wenn es der Dienstplan erlaubte, nahm auch Hans Schuierer daran teil – und zwar „fast jeden Sonntag“9. Die starke Präsenz des Landrats, eines politischen Würdenträgers, sei der Anti-WAA-Bewegung sehr zu Gute gekommen, so Wolfgang Nowak. Dass die Zusammenkünfte am Marterl stets friedlich abgelaufen sind, betont schließlich Anton Eiselbrecher.

Machen ist Macht? Tatendrang und Innovativität zunehmend selbstbewusster Akteure

Der gemeinschaftliche Bau des Franziskusmarterls führt vor Augen, von welchem Tatendrang und welcher Kreativität die Widerstandsbewegung gezeichnet war. Man wollte eben nicht tatenlos zusehen, sondern einen eigenen Beitrag dazu leisten, um den Bau der Wiederaufbereitungsanlage für Kernbrennstoffe vor der eigenen Haustüre zu verhindern. Dazu setzte man alle möglichen Hebel in Bewegung. Besonders in herausfordernden Zeiten kann man sich so der eigenen Selbstwirksamkeit vergewissern und Gefühlen der Machtlosigkeit entgegenwirken.10 In der kulturwissenschaftlichen Forschung werden Do-it-yourself-Aktivitäten vermehrt zusammenhängend mit dem Streben nach oder Erfahrungen von Autonomie betrachtet.11 Ist ein selbstgemachtes Werk gelungen, ruft das ein Gefühl des Stolzes hervor.12

Der an den Tag gelegte Gestaltungswille und die Offenheit für Neues äußerten sich nicht nur beim Erschaffen von Materiellem. Eigenständigkeit gewann man zum Beispiel auch im Zuge der Andachten am Marterl. Mit einem Mal war hier aktive Teilnahme gefordert, etwa indem man spontan selbst formulierte Fürbitten vortrug. Als sich der Pfarrer eines Tages verspätete, wusste man sich zu helfen und begann kurzerhand selbst mit der Feier der Andacht. Gesungen wurden dabei nicht – wie es noch so mancher Kirchenchor praktizierte – Werke in lateinischer Sprache, sondern neue geistliche Lieder mit rhythmischen und an Schlager oder Beatmusik angelehnten Klängen. Auch die Grenzen zwischen den Konfessionen spielten am Marterl so gut wie keine Rolle. Vielmehr kam es zum Austausch zwischen der katholischen und der evangelischen Kirche und ihren Gläubigen.

Alles in allem wird deutlich, dass die Anhänger der Proteste mit Konventionen brachen und ungeahnte Fähigkeiten und Potenziale entdeckten. Sie wurden zunehmend mutiger. Gewissermaßen fungierten der bewiesene Einfallsreichtum und das zum Vorschein gekommene Improvisationstalent damit auch erst als Motor für das Selbstbewusstsein der Akteure.

Virtuelle Musealisierung eines immobilen Objekts. Unkonventioneller Sammlungsansatz des Projekts hand.gemacht

Im Zuge der Erhebung des Franziskusmarterls konnten die Vorteile des Sammlungsansatzes, den das Projekt hand.gemacht verfolgt, voll ausgeschöpft werden. Ins Museum könnte das Originalobjekt allenfalls durch Translozierung, d. h. die Versetzung des Bauwerks, gelangen. Das wäre jedoch in diesem Fall nicht denkbar, denn noch immer findet zum Beispiel an Heiligabend alljährlich eine gut besuchte Andacht dort statt. Demnach ist der Bildstock nach wie vor „in Benutzung“. Mithilfe von 3D-Technologie kann aber zumindest ein digitales Abbild des Kleindenkmals geschaffen und aufbewahrt werden. Dazu hat Medieninformatiker Julian Moder das Marterl zunächst mit dem 3D-Scanner Artec Leo erfasst. Die Daten verarbeitet er daraufhin zu einem 3D-Modell, welches Kulturwissenschaftlerin Michaela Stauber anschließend um Informationen zur Entstehung und Bedeutung des Objekts ergänzt. Auf diese Weise ist es möglich, das Franziskusmarterl und seine Geschichte im virtuellen Raum zu präsentieren.

Von Widerstandssocken und „WAA Nein“-Ansteckern. Das handgemachte Erbe der Proteste

Neben dem Marterl ist das Projektteam auf viele weitere Objekte gestoßen, die im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die WAA entstanden sind. Als wohl geläufigstes Beispiel sind selbstgebastelte Transparente zu nennen. Darüber hinaus trugen handgefertigte Keramikanstecker mit der Aufschrift „WAA Nein“ zur Finanzierung der Aktionen der Bürgerinitiative bei. Nicht zuletzt zählen auch Irmgard Gietls Widerstandssocken zum handgemachten Erbe der Proteste.13 In virtualisierter Form finden diese Gegenstände – und mit ihnen ein Stück Oberpfälzer Zeitgeschichte – nun Eingang in die Sammlung des Projekts hand.gemacht.


  1. Vgl. Duschinger, Oskar/Zech-Kleber, Bernhard von: Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf (07.12.2021), in: Historische Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Wiederaufbereitungsanlage_Wackersdorf (letzter Zugriff am 16.09.2024). ↩︎
  2. Wo nicht anders angegeben, stammen die Inhalte des Blogbeitrags aus diesem Interview. ↩︎
  3. Vgl. Zeitzeugen-Interview mit Claus Bößenecker vom 12.04.2015, auf: HdBG-Portal “Zeitzeugen berichten”, URL: https://hdbg.eu/zeitzeugen/detail/katholische-kirche/claus-boessenecker/994 (letzter Zugriff am 16.09.2024). ↩︎
  4. Vgl. Duschinger/Zech-Kleber: Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf. ↩︎
  5. Beide Zitate Nowak, Wolfgang: Interview vom 08.08.2024. ↩︎
  6. Nowak, Wolfgang: Interview vom 08.08.2024. ↩︎
  7. Vgl. Duschinger, Oskar: Hans Schuierer. Symbolfigur des friedlichen Widerstandes gegen die WAA, Regenstauf 2018, S. 85. Vgl. auch Zeitzeugen-Interview mit Andreas Schlagenhaufer vom 16.03.2014, auf: HdBG-Portal „Zeitzeugen berichten“, URL: https://hdbg.eu/zeitzeugen/detail/oberpfalz/andreas-schlagenhaufer/869 (letzter Zugriff am 16.09.2024). Vgl. auch Döring, Alois: Franziskus in Wackersdorf. Christliche Symbolik im politischen Widerstand – religiöse Riten und Formen in ökologischen und friedensethischen Protestbewegungen, in: Brednich, Rolf Wilhelm/Schmitt, Heinz (Hg.): Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur, Münster 1997, S. 435-449, hier: S. 444. ↩︎
  8. Schuierer, Hans: Interview vom 08.08.2024. ↩︎
  9. Schuierer, Hans: Interview vom 08.08.2024. ↩︎
  10. Während der Coronapandemie betrieben die Menschen u. a. aus diesem Grund vermehrt Gartenarbeit oder verfolgten andere DIY-Projekte. Vgl. dazu Poulakos, Ismene/Bremer, Paul: Die Bedeutung von DIY & Gartenarbeit in Corona-Zeiten, Köln 2021, URL: Booklet_DIY_Gartenarbeit_Corona-Zeiten_Web-PDF_200PPI.pdf (bhb.org) (letzter Zugriff am 16.09.2024), S. 9. ↩︎
  11. Vgl. Kreis, Reinhild: Kreis, Reinhild: Do-it-yourself und die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Aktuelle Diskussionen in historischer Perspektive, in: Jonas, Michael/Nessel, Sebastian/Tröger, Nina (Hg.): Reparieren, Selbermachen und Kreislaufwirtschaften. Alternative Praktiken für nachhaltigen Konsum, S. 43-54, hier: S. 48. Vgl. Schaaf, Franziska: Schaaf, Franziska: Gute Arbeit Handarbeit? Altes Handwerk, DIY und Geschlechterverhältnisse in den Medien, Bielefeld 2022, S. 229f. ↩︎
  12. Reinhild Kreis arbeitet derartige Effekte in Bezug auf kreative Notbehelfe im Umfeld des Zweiten Weltkrieges heraus. Vgl. Kreis, Reinhild: Selbermachen. Eine andere Geschichte des Konsumzeitalters, Frankfurt a. M. 2020, S. 296. ↩︎
  13. Die Socken sind auch Gegenstand folgenden BR-Beitrags über Irmgard Gietl: https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/lebenslinien/irmgard-und-die-widerstandssocken-irmgard-gietl-wackersdorf-oberpfalz-ganze-folge102.html (letzter Zugriff am 16.09.2024). ↩︎
Michaela Stauber M.A.

Michaela Stauber, M.A., ist seit Oktober 2022 als Doktorandin im Rahmen des Projekts hand.gemacht am Freilandmuseum Oberpfalz beschäftigt. Sie studierte von 2016 bis 2022 an der Universität Regensburg Geschichte, Germanistik und Vergleichende Kulturwissenschaft sowie Public History und Kulturvermittlung.

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