Von halben Höfen, Inwohnern und Wanderarbeitern

Zum sozialen und wirtschaftlichen Leben der bäuerlich-ländlichen Bevölkerung im 18. und 19. Jahrhundert

Blickt der heutige, sich selbst als „modern“ verstehende Betrachter auf das Landleben der vergangenen Jahrhunderte zurück, dann ist die Vorstellung „früher war alles simpler – früher war alles besser“ meist nicht fern. Ganz unabhängig von einer solchen Wertung – denn diese muss schlussendlich einem jeden selbst überlassen bleiben – sollen die folgenden Zeilen doch zumindest aufzeigen, dass von „simpel“ nicht die Rede sein kann: Die sozialen Strukturen in den Dörfern des 18. und 19. Jahrhunderts bildeten komplexe Gefüge, bei denen Bauer nicht gleich Bauer war. Die sozialen Unterschiede, die sich selbstverständlich auch in der Lebensführung der Menschen beispielsweise in der Beschaffenheit ihrer Behausung niederschlugen, kann man im Freilandmuseum Oberpfalz ganz wunderbar an der Baugruppe im Stiftland nachvollziehen; hier sieht der Besucher das Nebeneinander von größeren Höfen, Handwerkerhäusern und den Unterkünften der armen oder besitzlosen Schichten, das die Dörfer in dieser Zeit prägte.

Dieses ausgereifte und in sich stark differenzierte Sozialgefüge der bäuerlich-ländlichen Bevölkerung will der folgende kleine Beitrag durchleuchten sowie die Veränderungen dieser Strukturen im Angesicht sozialer wie wirtschaftlicher Entwicklungen im Verlauf der Jahrzehnte aufzeigen.

Das soziale Gefüge in den Dörfern im 18. Jahrhundert

In der Zeit vom 30jährigen Krieg bis zur Jahrhundertwende um 1800 konnte das Dorf als Siedlungsform gefestigt werden[1]; die soziale Ordnung des frühen 17. Jahrhunderts war schnell wiederhergestellt, die unterschiedlichen Wirtschaftszweige wuchsen stetig und die Bevölkerungsverluste des Krieges hatten höhere Löhne und niedrigere Landpreise zur Folge. Unterbäuerlichen Bevölkerungsgruppen wurde so die Chance auf wirtschaftliche Stabilität ermöglicht, wenngleich wachsende soziale Unterschiede sich zunehmend abzeichneten.

Das Sozialgefüge in den Dörfern war geprägt von nachbarschaftlichen Verbindungen, die gleichermaßen von Zusammenhalt wie von Abgrenzung bestimmt sein konnten: Durch die verschiedenen Ausstattungen einzelner Haushalte in Bezug auf ihre Ressourcen war der Austausch von finanziellen und materiellen Mitteln sowie Arbeitskraft unabdinglich für das Überleben. Ein soziales Miteinander und die Bereitschaft, sich innerhalb der dörflichen Gemeinschaft einzusetzen, waren für die Funktion dieses Gefüges von großer Bedeutung. Diese Art des Zusammenlebens stärkte einerseits durch gegenseitige Hilfe die sozialen Bindungen, verfestigte andererseits aber die geringe, wenn nicht sogar Außenseiterstellung derjenigen, die keine Unterstützung leisten, sondern sie nur empfangen konnten.

Die spezifische soziale Struktur eines Dorfes konnte je nach Erwerbsschwerpunkt des jeweiligen Dorfes variieren: In den meisten Siedlungen mit einem Schwerpunkt auf Ackerbau hatte sich eine dörfliche „Oberschicht“ bestehend aus denjenigen Bauern, die über den meisten Land- und Gespannbesitz verfügten, herauskristallisiert. Mehr Landbesitz bedeutete unweigerlich, dass mehr Fläche bewirtschaftet werden konnte, also mehr angebaut werden konnte und die Erträge aus der eigenen Landwirtschaft dementsprechend größer waren als bei Bauern mit weniger Landbesitz. Mehr Gespannbesitz hieß auch, dass schneller und effektiver gewirtschaftet werden konnte. Diejenigen also, die durch ihren Besitz bereits besser aufgestellt waren als andere im Dorf, verfügten auch über bessere Möglichkeiten, ihre Erträge zu steigern und ihren Besitz weiter zu mehren.

Die Herausbildung einer solchen Oberschicht musste aber nicht überall in dieser starken Ausprägung der Fall sein – in Dörfern mit ausgedehnten, von allen nutzbaren Gemeinweiden und Wäldern zeichnete sich diese Kluft beispielsweise viel weniger ab. Auch gewerbliche Erwerbsformen wie z.B. Wanderarbeit oder im Ort ausgeübte Handwerke beeinflussten das soziale Gefüge und machten es differenzierter: Nun gab es mehr als nur eine ökonomische Ausrichtung innerhalb eines Dorfes.[2]

Obgleich bei den Besitzern kleinerer Hausstellen ein Bestreben hin zur Selbstständigkeit und damit Unabhängigkeit von der bäuerlichen Oberschicht zu verzeichnen war, blieb die Dorfgemeinschaft doch in vielen Fällen von personellen und ungleichen Abhängigkeitsbeziehungen geprägt.[3] Vollbauern, die ihren Lebensunterhalt vollständig aus den Erträgen ihres eigenen Besitzers decken konnten und nicht gezwungen waren, mit einem Nebengewerbe dazuzuverdienen, machten nur einen geringen Anteil der ländlichen Bevölkerung aus.

Bauern, Söldner, Tagelöhner

Drei grundlegende Gruppen sind in der sozialen Schichtung der Dörfer dieser Zeit unterscheidbar: 1. Bauern und Söldner, 2. Handwerker mit realem Gewerbe und Häusler und 3. Tagelöhner, Hirten, Knechte, Mägde und Inwohner. Die deutlichsten Unterschiede der Dorfbewohner zeigten sich im Besitzstand und in der Abhängigkeit vom Grundherren.[4]

Bauern und Söldner verdienten ihren Lebensunterhalt mit ihren Erträgen aus Ackerbau und Viehhaltung; sie besaßen eine eigene Hofstelle mit verschieden großen Tagwerk.[5] Das sogenannte „Tagwerk“ ist eine Maßeinheit, die ursprünglich eine Wiese bezeichnete, die ein Mann an einem einzigen Tag mähen konnte; später fasste der Begriff eine Ackergröße, die man binnen eines Tages mit vier Pferde bestellen konnte.[6] Der Begriff „Söldner“ meinte in Bayern in der Regel keinen Soldaten, sondern einen Kleinbauern, dem eine Sölde, also ein kleines Bauerngut, und etwas Grund, gegebenenfalls sogar etwas Vieh gehörten. Nicht alle Söldner waren Vollbauern; sie konnten in vielen Fällen nicht von den Erträgen ihrer Landwirtschaft leben und waren gezwungen, sich durch einen Nebenerwerb (z.B. als Tagelöhner oder Handwerker) Einkommen hinzuzuverdienen.[7] Bauern und Söldner machten nur etwa 1/3 der Gesamtbevölkerung der Oberpfalz aus.[8]

Häusler und viele Handwerker verfügten zwar über eine eigene Hausstelle, allerdings gehörte zu dieser entweder kein oder nur sehr geringes Tagwerk.[9] Häusler besaßen oder pachteten ein kleines Haus, vielleicht mit einem kleinen Garten, waren aber meist ganz ohne Grund und besaßen in der Regel auch keine Pferde.[10] Ein Beispiel hierfür sind die Häuslereheleute Josef und Maria Santl; ein Schuhmacherehepaar, dass das Inhaus in Auenzell (heute in der Baugruppe „Oberpfälzer Wald“ im Freilandmuseum Oberpfalz) erwarb. Neben dem Wohnhaus besaß das Paar nur einen Garten, kein Ackerland; erst durch den Nachfolger Josef Semmelmann wurde der Besitz bis 1914 auf 12 Tagewerk vergrößert.[11]

Je nach Region konnten die genannten Begriffe Personen mit verschiedenem Besitzstand meinen, zudem vermischte sich ihre rechtliche Stellung vielerorts, sodass eine klare Abtrennung schwer zu treffen ist.[12]

Während Söldner teils zum Nebenerwerb als Dorfhandwerker auftraten, konnten die hauptberuflichen Handwerker ihren Lebensunterhalt im besten Fall vollends aus ihrem Gewerbe bestreiten: 1793 konnte sich der Webermeister Josef Schurrer ein zweistöckiges Wohnhaus mit Stall bauen (Webergirgl im „Stiftlanddorf“ im Freilandmuseum Oberpfalz); das Haus verfügte über einen eigenen Backofen (andere Hausstellen teilten sich den Backofen zuweilen mit den Nachbarn) und vier Tagwerk Ackerland. Mit den Jahren geriet die Hausweberei mehr und mehr in Konkurrenznot, sodass der nachfolgende Webermeister Georg Döllinger gezwungen war, das verbotene „Waldgrasraufen“ zu betreiben, um Futtermittel für seine zwei Ziegen zu beschaffen – dabei wurde er ertappt und zu einer Strafe von 20 Kreuzern verurteilt. 1825 lebten im Webergirgl insgesamt zehn Personen: die Familie Döllinger mit drei Kindern sowie dem Auszügler Josef Schurrer und einigen Inwohnern.[13]

Die sogenannten „Inwohner“ oder „Inleute“ lebten in den Häusern anderer Personen, meist Bauern, entweder direkt im Haus oder in einem Nebengebäude. Sie waren von Hausherren abhängig, für das Wohnrecht musste gezahlt werden oder es wurden im Gegenzug Arbeiten auf dem Hof verrichtet.[14] Die Vermietung einiger Räume an Inwohner stellte, wie im Fall Georg Döllingers, also durchaus eine Möglichkeit dar, die eignen Finanzen aufzubessern. Dass dadurch auch kleine Häuser teils von zahlreichen Personen bewohnt wurden, musste in Kauf genommen werden.

Ein „Auszügler“ bzw. „Austrägler“ hatte seinen Hof bereits an seinen Nachfolger und/oder Erben übergeben, wurde im Gegenzug aber noch von diesem versorgt. In einem sogenannten „Ausnahmsbrief“, der sehr ausführlich ausfallen konnte, wurden die gegenseitigen Rechte und Pflichten geregelt: Dazu zählten v.a. das Wohnrecht für den Auszügler, die jährliche Abgabe von Naturalien und ein „Unterschlupfrecht“ für ledige Geschwister bis zur Heirat. Die Auszügler wohnten in speziell für sie angedachten Räumlichkeiten, entweder in einer Kammer des ursprünglichen Hauses oder auf größeren Höfen in einem eigens errichteten Austragshäusl, das oft in Verbindung mit einem Backofen, einer Werkstatt oder einem Waschhaus stand.[15] Auf diese Weise konnte die weitere Versorgung des vorigen Grundbesitzers nach der Übergabe seines Besitzers an die Erben geregelt und gesichert werden.

Die dritte Gruppe im sozialen Gefüge der bäuerlich-ländlichen Dorfgemeinschaft setzte sich aus denjenigen zusammen, die über keinen eigenen Grundbesitz verfügten. Tagelöhner, Inleute, Knechte und Mägde machten den größten Anteil der Landbevölkerung aus. Die Knechte und Mägde gehörten der Hausgemeinschaft eines Bauern an und lebten in relativ gesicherten Verhältnissen, waren jedoch von ihrem Herrn abhängig. Unterdessen waren Tagelöhner zwar selbstständig, verfügten durch ihre Gelegenheitsarbeit aber nicht über ein geregeltes Einkommen.[16]

Die Hirten nahmen innerhalb dieser Gruppe, aber auch im Hinblick auf ihre Stellung in der Gemeinschaft eine Sonderposition ein: Sie waren zwar besitzlos, besaßen an manchen Orten aber bestimmte Privilegien für ihre Arbeit. Die Hirten waren für die Bauern der Gemeinde tätig und erhielten eine kostenlose Dienstwohnung im Hirtenhaus, zu der auch kleinere Gemeindegründe zur Haltung ihrer Tiere gehören konnten (ein Beispiel eines solchen Hauses ist das Hirtenhaus im „Stiftlanddorf“ im Freilandmuseum Oberpfalz). Die Hirtenhäuser wurden oft von mehreren Personen zugleich bewohnt; neben dem Hirten lebten dort die Armen der Dorfgemeinschaft, etwa verarmte Söldner oder Müller.[17] Zwar übten die Hirten eine wichtige Arbeit für die Gemeinschaft aus, hatten aber doch eine Außenseiterrolle innerhalb der Dorfgemeinde inne. Das konnte sogar so weit gehen, dass der Hirte in der Zeit der Hexereiprozesse durch seine Nähe zu den Tieren leicht in den Verdacht geriet, als Werwolf das Vieh der Dorfbewohner zu reißen.

Höfe, Huben, Sölden

Der Grund- und Hausbesitz der Dorfbewohner und damit das wichtigste Kriterium ihrer sozialen Abgrenzung wurde seit dem ausgehenden Mittelalter nach dem sogenannten „Hoffuß“ eingeteilt. Die Güter wurden nach ihrer Größe zur Bestimmung der Abgaben und Arbeitsdienste, die der Besitzer seiner Grundherrschaft zu leisten hatte, unterteilt. In Bayern wurde die Bezeichnung „Hoffuß“ erst um das Jahr 1700 herum gebräuchlich; zuvor wurden die Begriffe „ganzer Hof“, „halber Hof“ bzw. „Hube“, „Viertel-Hof“ bzw. „Lehnen“ und „Sölde“ benutzt (diese frühen Bezeichnungen entsprechen allerdings nicht unbedingt der späteren Einteilung in Hoffuß, obwohl Begriffsgleichheiten auftreten). Die Flächeneinheiten, die zu einem Bauerngut gehörten, konnten je nach Zeit, Region und sogar Bodenbeschaffenheit variieren – die Größe eines ganzen Hofes konnte beispielsweise zwischen 90 und 180 Tagewerk schwanken, wenn 90 Tagewerk ertragreichen Bodens denselben Ertrag wie 180 Tagwerk schlechten Bodens hervorbrachten. In manchen Fällen konnte ein als Sölde geführtes Gut die gleiche Fläche wie ein Halbhof beinhalten.[18]

Die folgende Einteilung wird beim Hoffuß vorgenommen: Bei ca. 40-60 Tagwerk spricht man vom „Ganzen Hof“ eines Bauern oder Maiers, bei ca. 30 Tagwerk vom „Halben Hof“ oder der „Hube“ eines Hubers oder Halbbauers. Weitere, nach ihrer Größe absteigende Einheiten sind der „Viertel-Hof“ bzw. die „halbe Hube“; der „Achtel-Hof“ bzw. „Sölde“ eines Söldners; der „Sechzehntel-Hof“ bzw. die „Leersölde“ eines Häuslers mit nur geringem oder gar keinem zugehörigem Land und letztlich der „Zweiunddreißigstel-Hof“ bzw. die „gemeine oder bloße Sölde“. Je nach Region können in der Bezeichnung dieser Güter und ihrer Besitzer Unterschiede oder Überschneidungen auftreten.[19] Die Bezeichnungen der jeweiligen Besitzer dieser Hofstellen begegnen uns übrigens noch heute in weit verbreiteten Nachnamen wie Meier oder Huber.

Ein hervorragendes Beispiel für einen ganzen Hof ist der Edelmannsbauer in Perschen („Edelmannshof Perschen“ im Freilandmuseum Oberpfalz). Zu diesem Gut gehörten insgesamt 108 Tagwerk Land; 1630 verfügte der Besitzer des Hofes, Endres Hillbrand, über zwei Pferde, ein Fohlen, vier Ochsen, sieben Kühe, sechs Rinder, vier Kälber, 35 Schafe, ein Schwein mit acht Frischlingen und eine Geiß[20] – eine beträchtliche Anzahl an Vieh, wobei vor allem der Besitz von Pferden ein Statussymbol für den Bauern darstellte; ein Söldner besaß in den meisten Fällen keine Pferde.[21]

Der Urschlbauernhof (im „Oberpfälzer Jura“ im Freilandmuseum Oberpfalz) war ein halber Hof in der westlichen Oberpfalz in Gebertshofen, für den im Jahr 1839 ein Besitzstand von einem Wohnhaus mit Stallung unter einem Dach, einem Stadl, Kasten, Schweinestall, Keller, Backofen, Garten und einem Hofraum sowie 86 Tagwerk Land verzeichnet wurde; hinzu kamen zwei Ochsen, drei Kühe, zwei Rinder und zehn Schafe.[22]

Der vergleichsweise deutlich geringere Besitzstand eines Söldner in Pemfling (Langerbauer im „Oberpfälzer Wald“ im Freilandmuseum Oberpfalz) belief sich auf eine hölzerne Behausung mit Stall, Stadl und Schupfen sowie insgesamt nur 17 Tagwerk und lediglich zwei Kühe, vier Ochsen und drei Schweine.[23]

Zur Entwicklung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens in den Dörfern in 19. Jahrhundert

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wirkten sich Prozesse wie die Urbanisierung, die Literarisierung, die zunehmende Migration und die Industrialisierung auch auf das Leben in den Dörfern aus.[24] Für die Landwirtschaft bedeutete das eine Zeit massiver Umbrüche. Die Kommunikationskreise der bäuerlichen Oberschicht weiteten sich im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert mehr und mehr aus, etwa durch die Übernahme von Ämtern, die Erschließung neuer Märkte oder überlokale Heiraten wurden zweckdienliche Kontakte ins Umland geknüpft, die über die eigene Dorfgemeinschaft hinausreichten. Der Horizont der dörflichen Lebensrealität wurde so in wirtschaftlicher, aber auch in sozialer Hinsicht erweitert.

Auf der Suche nach Arbeit zog es zahlreiche Menschen weg von Dörfern, sie verdingten sich als Tagelöhner und Wanderarbeiter, die beispielsweise beim Bau von Städten mitwirkten. Die Option, ganzzeitlich  oder saisonal in Fabriken zu arbeiten, schuf eine Ergänzung oder gar Alternative zur Lohnarbeit im landwirtschaftlichen Bereich. Wer temporär oder saisonal aus den Städten und Fabriken in sein Heimatdorf zurückkehrte, brachte neben seinem Lohn auch neues Wissen mit; der interregionale Austausch wurde verstärkt.

Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden auch im ländlichen Raum Genossenschaften, woran sichtbar wird, wie bestimmte Entwicklungen der urbanen Gebiete auch in die bäuerlich-ländliche Lebenswelt Einzug halten. So hatten sich etwa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bauern von Niedermurach (Dreschstadel in der „Nabburgerstraße“ im Freilandmuseum Oberpfalz) zu einer Dreschgenossenschaft zusammengeschlossen, was ihnen ermöglichte, gemeinsam eine Dreschmaschine zu kaufen und zu betreiben.[25] Allein an diesem Beispiel wird sehr deutlich, dass die Industrialisierung nicht nur in den Städten um sich griff, sondern auch im ländlichen Raum die sozialökonomische Entwicklung vorantrieb.

Auch die Literarisierung der ländlichen Bevölkerung schritt weiter voran, sie war entstanden aus ganz wirtschaftlichen Notwendigkeiten: für die Aufrechterhaltung von Marktbeziehungen durch Briefwechsel etc. waren Schreib- und Lesefähigkeit unabdingbar. Die Schriftlichkeit blieb zunächst auf praktische Bereiche beschränkt, z.B. auf das Abfassen ökonomischer Tagebücher. Die Lektüren der Landbevölkerung waren zunächst religiös und erbaulich, wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts aber zunehmend diverser. Allmählich kamen auch die aktuellen Printmedien im ländlichen Raum an.

In Sachen Landwirtschaft versuchte man, mit den agrarischen Großbetrieben mitzuhalten, was mittleren und größeren Bauernwirtschaften auch gelang: vorerst weniger durch Technisierung, sondern vielmehr durch gesteigerten Arbeitseinsatz wurde zu dieser Zeit eine agrarische Intensivierung erreicht. Die regionalen Nachfragen an Lebensmitteln waren durch die einsetzende Urbanisierung gestiegen und durch das Bevölkerungswachstum, das auch in den Dörfern mehr und mehr zunahm, wuchs auch der Bedarf an Lebensmitteln auf dem Land selbst.

Vor allem den mittleren und den großen Bauern gelang es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich zu stabilisieren und gegen die Großbetriebe durchzusetzen. Auf der Kehrseite blieben jene, die nicht über den nötigen Grundbesitz verfügten, um mitzuwachsen, bei diesem Aufschwung auf der Strecke. Für viele junge Männer stellte die Wanderarbeit einen Ausweg aus dieser Situation dar, einige kehrten nie in ihre Heimatdörfer zurück – für die zurückgebliebenen ledigen jungen Frauen hatte dies eine beschwerliche Suche nach geeigneten Heiratspartnern zur Folge.

Der Bevölkerungszuwachs ging derart schnell vonstatten, dass die vermehrte Abwanderung zunächst keinen Einfluss auf die Dörfer nahm. Doch der zuvor nicht gekannte Bevölkerungsdruck zog auch soziale Probleme nach sich, wenn es etwa infolge des Versuchs, irgendwelche Erträge erzielen zu können, zu einer massiven Zerteilung oder Überbewirtschaftung von Ackerland kam. Die mehrfach angesprochene bäuerliche „Oberschicht“ blieb weiterhin von Bedeutung für die Dorfgemeinschaften: Sie waren es, die die Beziehungen der Dörfer nach außen stärkten und wie bisher innerdörflich als Arbeitgeber, Geldverleiher und Vermieter fungierten.

Diese Zeit des wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs, die auch im 20. Jahrhundert mit zahlreichen neuen Entwicklungen weiterging, wird im Freilandmuseum Oberpfalz von der Baugruppe in der „Nabburger Straße“ widergespiegelt: Die Felder mussten nun größer sein, damit sie auch mit Maschinen bewirtschaftet werden konnten. Man benötigte Gebäude zur Unterbringung dieser landwirtschaftlichen Maschinen, als Beispiel hierfür sei erneut die Dreschmaschine genannt, die durch den genossenschaftlichen Zusammenschluss mehrerer Bauern erworben werden konnte und ihren Platz im Dreschstadel hat. Solche Genossenschaften übernahmen auch den Verkauf der landwirtschaftlichen Erzeugnisse ihrer Mitglieder; die wurden in Bauten wie der Raiffeisenhalle gelagert.


[1] Vgl. für diesen und den folgenden Absatz: Troßbach, Werner/ Zimmermann, Clemens: Die Geschichte des Dorfes. Stuttgart 2006. S. 169.

[2] Vgl. Troßbach / Zimmermann 2006. S. 169f.

[3] Vgl. Troßbach / Zimmermann 2006. S. 170f.

[4] Vgl. Neugebauer, Manfred: Oberpfälzer Freilandmuseum Neusath-Perschen (Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern 4; Schriftreihe „Oberpfälzer Freilandmuseum“ 1.) München 1995. S. 12.

[5] Vgl. Neugebauer 1995. S. 13

[6] Vgl. Riepl, Reinhard: Lemma Tagwerk. In: Wörterbuch zur Familien und Heimatforschung in Bayern und Österreich. Waldkraiburg 2003. S. 367.

[7] Vgl. Riepl, Reinhard: Lemma Söldner. In: Wörterbuch zur Familien und Heimatforschung in Bayern und in Österreich. Waldkraiburg 2003. S. 349f.

[8] Vgl. Neugebauer 1995. S. 13.

[9] Vgl. a.a.O.

[10] Vgl. Riepl, Reinhard: Lemma Häusler. In: Wörterbuch zur Familien und Heimatforschung in Bayern und in Österreich. Waldkraiburg 2003. S. 166f.

[11] Vgl. Neugebauer 1995. S. 13-15.

[12] Vgl. Neugebauer 1995. S. 13.

[13] Vgl. a.a.O.

[14] Riepl, Reinhard: Lemma Inleute. In: Wörterbuch zur Familien und Heimatforschung in Bayern und Österreich Waldkraiburg 2003. S. 186.

[15] Vgl. Riepl, Reinhard: Lemma Auszügler. In: Wörterbuch zur Familien und Heimatforschung in Bayern und Österreich. Waldkraiburg 2003. S. 40 und Neugebauer 1995. S. 13.

[16] Vgl. Neugebauer 1995. S. 16.

[17] Vgl. a.a.O.

[18] Vgl. Riepl, Reinhard: Lemma Hoffuß. In: Wörterbuch zur Familien und Heimatforschung in Bayern und Österreich. Waldkraiburg 2003. S. 175.

[19] Vgl. Lemma Hoffuß 2003. S. 176.

[20] Vgl. Neugebauer 2006. S. 13.

[21] Vgl. a.a.O.

[22] Vgl. a.a.O.

[23] Vgl. a.a.O.

[24] Vgl. Troßbach / Zimmermann 2006. s. 201-204.

[25] Heimrath, Ralf / Moser, Günther / Angerer, Birgit: Das Oberpfälzer Freilandmuseum Neusath-Perschen. Häuser, Menschen,  Geschichte. Amberg 2006. S. 78.