Kirwabaum und Kücheln. Bedeutungen und Funktionen selbstgemachter Brauchobjekte | Teil 2

Mir hom’s für unser Leb’n so gern,
wenn frische Köichln bacha werd’n.
Schmeckt so guad im ganzen Haus,
‘s gäiht nix übern Bauernschmaus.

Beim Nachbarn hinterm Kirwabaum,
in der Schupfa, in der Stub’n,
döi Gaudi und des Kindergschroa
hört ma in der ganzen Gmoa.

Diese Zeilen aus einem Stück der in Oberbayern beheimateten „Dellnhauser Musikanten“ schildern ein klassisches Kirchweihtreiben. Dabei finden zwei Gegenstände Erwähnung, die auch in der Oberpfalz bei zahlreichen Kirchweihfeiern eine tragende Rolle spielen: die „Köichln“ (Kücheln) und der Kirwabaum.

Kücheln und Kirwabaum stehen im Fokus dieses Beitrages, der sich den folgenden Fragen widmet: Welche Funktionen und Bedeutungen kommen den beiden Gegenständen zu, die im Zuge des Brauches in ehrenamtlicher Arbeit “selbstgemacht” werden? Inwiefern spiegeln sie kulturell bedingte Wertvorstellungen wider? Wie beeinflussen sie das Kirchweihfest und die Akteure? Abschließend wird erläutert, was nach der Kirwa mit verschiedenen selbstgemachten Brauchgegenständen geschieht. Dabei wird der Bogen zu einem im Juli 2024 veröffentlichten Blogbeitrag geschlagen, dessen Augenmerk auf bemalten Keramikkrügen und selbstgebundenen Blumenkränzen lag.

Um diese Fragen beantworten zu können, wurde auf ein breites Spektrum an Quellen zurückgegriffen. Dazu zählen Presseberichte, eigene Beobachtungen sowie zahlreiche Interviews mit Kirwamoidln und -burschen aus dem Landkreis Amberg-Sulzbach. Mit den Physikatsberichten der bayerischen Landgerichtsärzte und der „Bavaria“ wurden zudem historische Quellen aus dem 19. Jahrhundert einbezogen.

Zur Sache! Kirwakücheln und Kirwabaum im Porträt

Kirwakücheln

Doch worum handelt es sich überhaupt bei den ins Auge gefassten Gegenständen? Kücheln stellen einen Klassiker unter den zur Kirwa kredenzten Speisen dar. Das in Schmalz herausgebackene Hefeteiggebäck zeichnet sich in den untersuchten Ortschaften des Landkreises Amberg-Sulzbach durch die dünne Haube in der Mitte und den goldbraun gebackenen Rand aus.

Kücheln mit Puderzucker (Foto: Michaela Stauber).
Kücheln mit Puderzucker, wie sie im Amberg-Sulzbacher Land verbreitet sind (Foto: Michaela Stauber).

Die Süßspeise war in dieser Form wohl bereits im 19. Jahrhundert in der Oberpfalz bekannt, denn unter dem Titel „Regensburger Kirwakücheln“ findet sich im 1866 erschienenen „Regensburger Kochbuch“ von Marie Schandri ein Rezept, welches die heute gängigen Kücheln im Amberg-Sulzbacher Raum zu beschreiben scheint.1 Welchen Stellenwert die Kücheln zur Kirwa im Raum Vilseck in der Mitte des 19. Jahrhunderts einnahmen, veranschaulicht ein Auszug aus dem Physikatsbericht des Landgerichts Vilseck aus dem Jahr 1860. Im Abschnitt „Vergnügungen und Feste“ heißt es hier:

In vielen Ortschaften werden die Kücheln zur Kirwa derzeit in ehrenamtlicher Tätigkeit selbst gebacken. Am Zug sind dabei oftmals entweder die Frauen im Dorf, vielfach aber auch die Kirwamoidln – die unverheirateten Brauchträgerinnen also. Sie treffen sich im Vorfeld, um gleich mehrere hundert Kücheln zu backen und die Festbesucher mit dem Gebäck versorgen zu können.

Kirwabaum

Atzmannsrichter Kirwabaum 2024 vor weiß-blauem Himmel (Foto: Michaela Stauber).

Der Kirwabaum gilt als das Wahrzeichen des Kirchweihfestes.3 Es handelt sich dabei um eine 25 bis 35 Meter hohe, gerade gewachsene Fichte, die bis auf die Spitze entastet und am Dorf- oder Kirwaplatz aufgestellt wird. Charakteristisch für dieses Kirwasymbol sind verschiedene handgemachte Schmuckelemente. Aus Zweigen von Nadelbäumen werden zwei oder drei Kränze gebunden und am Baum angebracht. Farbige Bänder zieren sowohl diese Kränze als auch den Wipfel des Kirwabaumes. Hinzu kommen verschiedene Schnitzereien, die am Baumstamm prangen.

Der Kirwabaum in Atzmannsricht mit charakteristischer Schnitzerei und bunten Bändern (Foto: Michaela Stauber).

Die historische Entwicklung dieses Brauchelements im Amberg-Sulzbacher Raum nachzuzeichnen, erweist sich als schwieriges Unterfangen. Weder in den Physikatsberichten der vier Landgerichtsbezirke Vilseck, Auerbach, Amberg und Sulzbach noch in demjenigen Teil der in den 1860er-Jahren veröffentlichten „Bavaria“4, der sich auf die Oberpfalz bezieht, wird der Kirchweihbaum erwähnt. Anders verhält es sich mit den Bänden der „Bavaria“, die sich den fränkischen Kreisen (Regierungsbezirken) widmen. Darin ist sehr wohl von einem solchen Baum die Rede. Hat man es hier also mit einem aus dem Fränkischen übernommenen Phänomen zu tun?5

In jedem Fall lassen sich Kirwabäume in der Oberpfalz für das beginnende 20. Jahrhundert belegen. Eine Fotografie aus dem Jahr 1920 zeigt den Kirwabaum in Hahnbach, und zwar bemerkenswerterweise in Gestalt einer Birke.6 An dieser Stelle sei ergänzt, dass Birken vielfach bei Bräuchen, primär im Frühjahr, zum Einsatz kommen und kamen.7

“Weil es dazugehört.”8 Tradition als Argument

Stellt man die Frage, weshalb es der Kücheln respektive des Kirchweihbaumes bedarf, lautet die einhellige Antwort der Akteure: „Weil es dazugehört.“9 So bieten sie die Kücheln im Verlauf der Kirwa auch deshalb an, um der Erwartungshaltung der Festbesucher bzw. Dorfbewohner gerecht zu werden. „Da sind auch die Leute dran gewöhnt“10, meint Kirwabursch Constantin aus Michelfeld. Freilich besteht die Möglichkeit, das Gebäck bei externen Dienstleistern zu ordern. Jedoch begreifen die Kirwamoidln das Backen selbst mitunter als eine Gepflogenheit, die sie nicht missen möchten:

„Also irgendwie ist das schon so, dass wir das machen, schon so Tradition sozusagen. Also ich würde es jetzt nicht cool finden, wenn wir jetzt auf einmal sagen nächstes Jahr: ,Der Bäcker liefert jetzt 500 Kücheln.‘“11

Kirwamoidl Miriam über das Küchelbacken der Großenfalzer Kirwamoidln

Wie hoch die Symbolkraft der Kücheln und des Kirwabaumes ist und welche Bedeutung die Akteure diesen beimessen, führt außerdem ein Rückblick in die Zeit der Corona-Pandemie vor Augen. Sogar als eine Kirchweihfeier nicht im gewohnten Umfang stattfinden konnte, buken die Trägergruppen zumindest Kücheln oder stellten einen Kirwabaum auf. Eine spontane Baumholaktion begründet Fabian aus Michelfeld folgendermaßen:

„Der [Kirwabaum] steht einfach schon immer, bei jeder Kirwa. Egal, ob damals Wirtshauskirwa mit zehn Leuten oder so, wie es jetzt ist, mit der großen Zeltkirwa. Der ist, glaube ich, schon immer da, der Baum. Deswegen haben wir während Corona auch an dem […] Freitagabend spontan beschlossen, dass wir in der Früh schnell einen Baum holen. Der gehört einfach dazu für uns.“12

Kirwabursch Fabian darüber, weshalb man in Michelfeld sogar während der Corona-Pandemie einen Kirwabaum aufstellte

Daraus lässt sich schließen, dass sowohl die Kücheln als auch der Kirwabaum stereotyp für die Kirwa stehen. Sie sind die „Basics“, wofür insbesondere die ihnen zugeschriebene lange Dauer verantwortlich gemacht wird. Tradition fungiert hier nicht zuletzt als Argument dafür, große Mühe auf sich zu nehmen und einen ganzen Tag dem Küchelbacken bzw. dem Holen, Schmücken und Aufstellen des Kirwabaumes zu widmen.13

Der Kirwabaum-Schmuck. Ausdruck regionaler Identität und Spiegel des Zeitgeistes

Bayernstereotype

Instagram-Post der Kirwagemeinschaft Ensdorf e.V. Zu sehen ist der Stamm des Kirwabaums, in den bayerische Rauten eingeschnitzt sind.

Ob blau-weiße Bänder, die im Wind flattern, oder Brezen, Bier und bayerische Rauten, die in den Stamm eingeritzt sind – die Zierelemente eines Kirwabaumes im Landkreis Amberg-Sulzbach greifen vielfach Elemente auf, die den Freistaat Bayern symbolisieren. „Da werden dann meistens entweder der Ortsname und das Jahr und irgendwelche Muster, die halt mit Bayern assoziiert werden, reingeschnitzt“14, beschreibt Kirwabursch Johannes die Motive für die Schnitzereien. Die Frage nach den Gründen für das Aufgreifen von stereotypen Bayerndarstellungen sorgt bei den Brauchträgern meist für Irritationen. Für sie scheint der Zusammenhang zwischen Kirwa und Bayern glasklar zu sein.

Auf einem Instagram-Post der Kirwagemeinschaft Ensdorf e.V. ist das in den Stamm eingeschnitzte Rautenmuster deutlich zu erkennen (Screenshot: Michaela Stauber).

Die Analyse der äußeren Form des Kirwabaumes offenbart hier, wie eng der Brauch gedanklich mit dem Freistaat Bayern verknüpft wird. Auf dem Baum werden diese Vorstellungen, die das immaterielle Kulturerbe betreffen, materialisiert und sichtbar. Es ist davon auszugehen, dass diese Sichtbarkeit die genannten Assoziationen wiederum verstärkt.15

Spiegel populärkultureller und politischer Ereignisse

Darüber hinaus macht das Weltgeschehen auch vor einem lokal anmutenden Objekt wie dem Kirwabaum nicht Halt, denn Bräuche – und die zugehörige materielle Kultur – reflektieren gesellschaftliche Verhältnisse und Transformationen, den jeweiligen Zeitgeist also.16 Auf der einen Seite haben populärkulturelle Phänomene wie Fußball-Weltmeisterschaften Auswirkungen auf die Gestalt des Kirwabaumes. Seit sich 2006 eine bis dato ungekannte Euphorie Bahn gebrochen hat, infolge derer die Deutschlandflagge zum beliebten Accessoire avancierte, weht dieses Symbol in Jahren von Fußball-Welt- und Europameisterschaften auch an diversen Kirwabäumen.

Auf der anderen Seite weist der Schmuck des Kirwabaumes auf politische Ereignisse hin. Nach dem Ersten Weltkrieg zierten beispielsweise gekreuzte Armee-Säbel den Kirchweihbaum in Rosenberg.17 Ein weiteres Beispiel, das sich allerdings auf einen Maibaum im Landkreis Tirschenreuth bezieht, verdeutlicht, inwiefern sich die Bänder an Kranz und Wipfel eigenen, um – buchstäblich – Farbe zu bekennen. Mit blauen und gelben Bändern setzte der Ort Groschlattengrün 2022 ein politisches Statement und bekundete seine Solidarität mit der Ukraine.18

Alles Handarbeit? Tradition und Authentizität beim Kirwabaum-Aufstellen

„Na ja, es ist halt Tradition, dass der Baum immer mit Muskelkraft oder mit Goißen aufgestellt wird, weil es halt schon immer so ein Spektakel ist. Es kommen trotzdem auch viele Dorfbewohner, die dann zuschauen, wie der Baum aufgestellt wird, weil es ja dann doch interessant ist. Und es ist so, es findet halt so statt und man schaut zu und so.“19

Kirwabursch Johannes über den Reiz des Baumaufstellens mit Muskelkraft

Diese Aussage des langjährigen Kirwaburschen Johannes deutet darauf hin, dass die Brauchträger das Aufstellen des Kirwabaumes mit sogenannten Goißen bzw. Schwalben als authentisch wahrnehmen. Authentizität wird kulturellen Praktiken vor allem dann zugesprochen, wenn sie nach (vermeintlich) historischem Vorbild ausgeführt werden und man sich infolge ihrer Ausübung als Bewahrer einer Tradition sieht.20 Eine als authentisch gedeutete kulturelle Ausdrucksform wird positiv bewertet und gilt gleichzeitig als „echt“, „wertvoll“ und „besonders“.21 „Mit einem Kran, das kann ja jeder“22, äußert sich Constantin mit einem Augenzwinkern und zeigt damit, dass das Baumaufstellen mit technisch-motorisierten Hilfsmitteln im Gegenzug belächelt und abgewertet wird.

Mithilfe spezieller Gerätschaften wuchten die männlichen Brauchträger den Kirwabaum in die Höhe (Foto: Michaela Stauber).

Aufstellen des Kirwabaums in Atzmannsricht (Foto: Michaela Stauber).

Dabei wird gedanklich oft ausgeklammert, dass selbst beim Baumaufstellen sehr wohl Modernisierungsmaßnahmen greifen. Immer wieder kommt es zu Anpassungen, die generell das Fortbestehen von Bräuchen sichern.23 So unterstützt zum Beispiel mancherorts eine Seilwinde die Männer, die den Baum in die Höhe stemmen.24 Andernorts kommt ein Radlader zur Absicherung zum Einsatz.25 Derlei Entwicklungen könnten als Ausdruck eines erhöhten gesellschaftlichen Sicherheitsbedürfnisses gedeutet werden, zumal Bräuche im engen Wechselspiel mit zeitspezifischen Denkweisen stehen.26 Weshalb man trotz etwaiger Risiken am Aufstellen mit Muskelkraft festhält? Die Antwort steckt im o. g. Zitat: Es wird als Tradition wahrgenommen, die aller Inszenierung zum Trotz eine besondere, spektakuläre – eben „authentische“ – Atmosphäre kreiert.

Eine Gemeinschaftssache. Zeitintensives und gemeinschaftliches Selbermachen als Kontrast zum Alltag

Sowohl beim Backen der Küchel als auch beim Aufstellen des Kirwabaums werden die Brauchträger vor eine Aufgabe gestellt, die sich allein nicht bewerkstelligen lässt. Stattdessen sind sie auf die Zusammenarbeit mit anderen, auf ein Miteinander angewiesen. Die Burschen machen zum Beispiel beim Transport des Baumes die Erfahrung eines Gemeinschaftserlebnisses. Besonders gut gefällt Fabian am Baumholen

„der Zusammenhalt im Wald, weil jeder weiß, dass es ohne den anderen nicht funktioniert, dass wir den Baum aus dem Wald raustragen. Weil da hängen alle, wirklich, also wirklich jeder hängt da dran, weil das Ding immer – oder öfters – bleischwer ist.”27

Kirwabursch Fabian über den Zusammenhalt der Burschen beim Baumholen

Zusammenarbeit ist auch gefordert, wenn es an das Aufstellen des Kirwabaumes geht. Neben den Kirwaburschen beteiligen sich daran zahlreiche männliche Dorfbewohner und zum Teil auch ehemalige Bewohner des Ortes. Das Kirwabaumaufstellen wird zum Dorfereignis, zumal viele ortsansässige Frauen und Kinder das Geschehen mitverfolgen. Dabei trifft man Menschen, mit denen man sonst kaum in Kontakt steht, und tauscht sich mit ihnen aus. Schon allein dadurch unterscheidet sich der Brauch vom Alltag. Und wie steht‘s beim Küchelbacken?

„Wenn wir mit den Mädels da backen, ist es halt irgendwie so eine Gemeinschaftssache und das ist halt irgendwie das Schöne. Weil, also wenn ich jetzt eine Torte daheim backe oder so, dann mache ich das immer halt alleine und ja, vielleicht mal zu zweit, aber halt schnell. Und meistens achtet man irgendwie noch drauf, dass man halt irgendeine macht, die nicht zu krass aufwändig ist. Und beim Küchelbacken nimmt sich halt irgendwie jeder immer so einen halben oder einen ganzen Tag Zeit und das ist halt so ein Zelebrieren vom Backen. Also das ist nicht einfach schnell gemacht.“28

Kirwamoidl Steffi über den zeitlichen Aufwand und den Stellenwert der Gemeinschaft beim Küchelbacken
Kirwamoidln in Großenfalz backen Kücheln (Foto: Michaela Stauber).
Beim Küchelbacken im Vorfeld der Kirwa gilt: Viele Hände, schnelles Ende (Foto: Michaela Stauber).

Anschaulich illustriert Kirwamoidl Steffi, welch hohen Stellenwert der Gemeinschaftsaspekt auch beim Küchelbacken einnimmt. Aus ihrer Aussage geht weiters hervor, dass die Backaktion im Vorfeld der Kirwa insofern einen Kontrast zum alltäglichen Backen darstellt, als man hierbei bewusst Zeit investiert. Einen halben oder ganzen Tag lang widmet man sich nichts anderem als dem Küchelbacken, was gewiss eine entschleunigende Wirkung entfalten kann.29

Der Kirwabaum und die Kücheln tragen dazu bei, dass der Kirchweihbrauch zu einem Erlebnis wird, welches sich von Alltagserfahrungen abhebt und auch den Jahreslauf gewissermaßen strukturiert.30 Geschuldet ist das mitunter der Kombination aus dem betriebenen zeitlichen (und körperlichen) Aufwand und dem gemeinschaftlichen Anpacken mit Menschen, die man teils nur einmal jährlich zur Kirwa trifft. Indem die Akteure zusammen an einer Aufgabe – hier an einem Objekt – arbeiten, entsteht eine besondere Gemeinschaft, was charakteristisch für Bräuche ist.31

Nach dem Fest

Kücheln, Kränze, Kirwabaum und Krüge zwischen Entsorgung…

„Oh Kirwa, lou niad nou!“, heißt es in einem bekannten Kirwalied, doch irgendwann nimmt jede Kirwa ein Ende. Was passiert nun mit den einzelnen Gegenständen? Was die Kücheln angeht, ist diese Frage schnell beantwortet, werden sie doch im Normalfall auf dem Fest verzehrt.

Lintacher Kirwahut mit selbstgebundenem, mittlerweile verwelktem Blumenkranz (Foto: Michaela Stauber).

Auch die selbstgebundenen Blumenkränze, die im ersten Teil des Blogbeitrages eingehender untersucht wurden, haben mitunter ein kurzes Leben. Besonders in den heißen Sommermonaten trocknen sie in Windeseile aus und lösen sich nach wenigen Tagen beinahe von selbst auf. Und selbst wenn der Kranz vorerst überlebt, wird er spätestens im Folgejahr vom Hut getrennt und entsorgt, wenn die Kirwamoidln neue Exemplare anfertigen.

Ein getrockneter Hutkranz, kurz bevor er im Grünabfall landet (Foto: Michaela Stauber).

Der Kirwabaum muss in den untersuchten Ortschaften einige Wochen nach der Kirwa weichen. Meist wird er zu Brennholz verarbeitet, besitzt dementsprechend auch nach seinem „Ende“ noch einen Gebrauchswert. In einigen Fällen werden Einzelteile davon jedoch aufbewahrt und zu Möbeln oder anderen Werken verarbeitet. Hier klingt eine weitere Funktion der selbstgemachten Brauchobjekte an, denen mitunter ein hoher ideeller Wert zugeschrieben wird: Sie dienen als Erinnerungsstücke.

… und Aufbewahrung

Damit wären wir auch beim letzten der analysierten Gegenstände angekommen: beim bemalten Krug. Seine Aufbewahrung wird bereits bei der Anfertigung mitgedacht, denn Jahreszahlen werden darauf notiert, um in der Zukunft eine Datierung des Gegenstands zu ermöglichen. Der Krug, oftmals nur für die Verwendung auf einer Kirwa gedacht, wird nach dem Fest gleichsam musealisiert. Indem er vom Festgelände ins private Heim wandert, wechselt er seinen Kontext und in diesem Zuge auch seine Funktion. Aus einem Trinkgefäß wird ein zu schonendes Anschauungsobjekt.32

Souvenirs wie der Krug sind, das sei abschließend festgehalten, zum Beispiel auch im Rahmen von Festivals oder eben Reisen verbreitet. Damit verweist der Krug darauf, dass die Kirwa als erinnerungswürdiges Ereignis erachtet wird – und Eventcharakter besitzt.33 Das schlägt sich schließlich auf den Social Media-Profilen der Akteuren nieder. Scherzhaft und etwas überspitzt meint Steffi dazu am Ende des Interviews: „Es gibt genau die zwei Sachen[, die man postet, Anm. d. Verf.]. Jahresrückblick, Kirwa und dann macht man noch Urlaub. Ja, mehr passiert in unserem Leben nicht [lacht].“34

Fazit: Bedeutungs- und Funktionsvielfalt selbstgemachter Brauchobjekte

Alles in allem fördert die Analyse von Kirwabaum & Co. eine große Bandbreite an Bedeutungen und Funktionen der selbstgemachten Brauchobjekte zutage. Die Gegenstände und ihre Ausgestaltung basieren auf – teils jahrzehntelang geprägten – Vorstellungen davon, wie der Kirchweihbrauch sein sollte und was ihn ausmacht. Das (gedachte) traditionelle und regionale Setting manifestiert sich in den Objekten, aber auch in den zugehörigen Praktiken des Selbermachens wie dem Kirwabaumaufstellen. Durch die Gegenstände und ihre Anfertigung werden bestimmte Vorstellungen wiederum weitergetragen, was etwa anhand bayernbezogener Schnitzereien am Kirwabaum erläutert wurde. Ferner lässt sich anhand des Kirchweihbaumschmuckes eine Verzahnung des Kirchweihbrauchs mit dem jeweiligen Weltgeschehen und Zeitgeist feststellen.

Des Weiteren konnte aufgezeigt werden, dass gerade den Anfertigungsprozessen eine soziale Bedeutung zukommt. Die Akteure machen eine Gemeinschaftserfahrung, wenn sie hunderte von Kücheln backen oder einen um die 30 Meter hohen Baum vorbereiten und in die Höhe manövrieren. Alleine geht es nicht, so die Erkenntnis. Die Zusammenarbeit lässt neue soziale Beziehungen entstehen oder festigt bestehende Kontakte. Dabei befinden sich die Brauchträger in Situationen, die sich vom Alltag abheben, sodass die brauchbezogenen Objektanfertigungen diesen strukturieren.

Besonders bei den seit Jahrzehnten belegbaren Objekten – dem Baum, den Kücheln und den Hutkränzen – handelt es sich um ephemere, d. h. vergängliche Gegenstände. Mit den erst kürzlich aufgekommenen selbstgestalteten Krügen haben die Brauchträger eine Möglichkeit gefunden, sich ein individualisiertes Andenken an die Kirwa zu schaffen. Das Bedürfnis danach kann als Symptom einer eventisierten Gesellschaft gedeutet werden und unterstreicht den Stellenwert, welche die Akteure dem Brauch zuschreiben.

Die betrachteten Gegenstände sind demnach mehr als Speisen, Trinkgefäße oder willkürliche Schmuckelemente. Sie vermögen es, Menschen zusammenzubringen. Und sie spiegeln den Brauch, die Gedankenwelt und Anliegen einer (jungen) Generation sowie die Gesellschaft mit ihren zeitspezifischen kulturellen Werten und Normen wider.


Zum Hintergrund

Projekt hand.gemacht

Die Inhalte dieses Blogbeitrags wurden im Rahmen des vom Bayerischen Staatsministerium der Finanzen und für Heimat geförderten Projekts hand.gemacht erarbeitet.


  1. Vgl. Schandri, Marie: Regensburger Kochbuch. 934 Original-Kochrezepte, Regensburg 1866, S. 298f. ↩︎
  2. Trummer, Manuel u. a.: Topographische und ethnographische Beschreibung des k. Landgerichts-Physikats-Bezirkes Vilseck 1860, in: Historischer Verein für Oberpfalz und Regensburg, Regionalgruppe Amberg (Hg.): Der Eisengau. Eine Sammlung heimatkundlicher Beiträge aus der Stadt Amberg und dem Landkreis Amberg-Sulzbach 44 (2015), S. 20-102, hier: S. 77. ↩︎
  3. Vgl. auch die offizielle Website zum Kulturerbe Kirwa im Amberg-Sulzbacher Land, URL: https://kulturerbe-kirwa.de/kulturerbe-kirwa/die-kirwa/. ↩︎
  4. Die „Bavaria“ ist eine landes- und volkskundliche Beschreibung des Königreichs Bayern und dient als Quelle für das Alltagsleben der breiten Bevölkerung Mitte des 19. Jahrhunderts. ↩︎
  5. Vgl. auch Fähnrich, Harald: Lebendiges Brauchtum der Oberpfalz, Pressath 42007, S. 246. ↩︎
  6. Vgl. Piehler, Uli: Mir hom Kirwa! Kirchweihfreuden in der Oberpfalz, Amberg 2009, S. 51. ↩︎
  7. So zum Beispiel beim Brauch des „Walberbaumes“, der im 19. Jahrhundert in der östlichen Oberpfalz gepflegt wurde. In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai lehnten junge Männer ihren Liebschaften entweder junge Fichten oder junge Birken ans Haus. Vgl. Fentsch, Eduard: Volkssitte, in: Heyberger, Joseph (Hg.): Bavaria. Landes- und Volkskunde des Königreichs Bayern. Mit einer Uebersichtskarte des diesseitigen Bayerns in 15 Blättern/2,1 = 4.-5. Buch. Oberpfalz und Regensburg, Schwaben und Neuburg; Abth. 1, Oberpfalz und Regensburg, München 1863, S. 253-324, hier: S. 269. ↩︎
  8. Annalena: Interview vom 08.06.2024, 00:31:24. ↩︎
  9. Ebd. ↩︎
  10. Constantin: Interview vom 17.10.2024, 01:09:00. ↩︎
  11. Miriam: Interview vom 10.07.2024, 00:28:21. ↩︎
  12. Fabian: Interview vom 17.10.2024, 00:56:27. ↩︎
  13. Vgl. Kammerhofer-Aggermann, Ulrike: Materielle Zeugnisse verdichteter immaterieller Wertsetzungen, in: Berger, Karl C./Schindler, Margot/Schneider, Ingo (Hg.): Stofflichkeit in der Kultur, Wien 2015, S. 122-135, hier: S. 129. ↩︎
  14. Johannes: Interview vom 25.01.2024, 00:00:26. ↩︎
  15. Vgl. Hertfelder, Thomas: Die Macht der Bilder. Historische Bildforschung, in: Wirsching, Andreas (Hg.): Oldenburg Geschichte Lehrbuch: Neueste Zeit, München 2006, S. 281-292, hier: S. 281, S. 285. ↩︎
  16. Vgl. Drascek, Daniel: Bräuche : Medien : Transformationen. Zum Verhältnis von performativen Praktiken und medialen (Re-)Präsentationen, in: Ders./Wolf, Gabriele (Hg.): Bräuche : Medien : Transformationen. Zum Verhältnis von performativen Praktiken und medialen (Re-)Präsentationen, München 2016, S. 9-22, hier: S. 15. Vgl. Schneider, Thomas/Uhlig, Mirko: Kulturanthropologische Brauch- und Ritualforschung, in: Volkskunde in Rheinland-Pfalz 39 (2024), S. 5-32, hier: S. 9, S. 20. ↩︎
  17. Vgl. Lösch, Sepp: Kirchweih und Trachtengewand. Das Beispiel der „Rosenberger Kirwa“, in: Appl, Tobias/Wax, Johann (Hg.): Tracht im Blick. Die Oberpfalz packt aus, Regensburg 2016, S. 276-281, hier: S. 280. ↩︎
  18. Vgl. o. A.: Vom Maibaum Groschlattengrün flattern Bänder in Ukraine-Farben, in: Onetz.de (02.05.2022), URL: https://www.onetz.de/oberpfalz/groschlattengruen-pechbrunn/maibaum-groschlattengruen-flattern-baender-ukraine-farben-id3518715.html (26.02.2025). ↩︎
  19. Johannes: Interview vom 25.01.2024, 00:42:11. ↩︎
  20. Vgl. Saupe, Achim: Weitergabe und Wiedergabe. Neue Perspektiven auf Tradierungsprozesse, in: Ders./Samida, Stefanie (Hg.): Weitergabe und Wiedergabe. Dimensionen des Authentischen im Umgang mit immateriellem Kulturerbe, Göttingen 2021, S. 17-34, hier: S. 32. ↩︎
  21. Vgl. Tauschek, Markus: Authentisierung, Authentizität und kulturelles Erbe. Paradoxien und Ambivalenzen, in: Saupe, Achim/Samida, Stefanie (Hg.): Weitergabe und Wiedergabe. Dimensionen des Authentischen im Umgang mit immateriellem Kulturerbe, Göttingen 2021, S. 53-70, hier: S. 53, S. 66. ↩︎
  22. Constantin: Interview vom 17.10.2024, 00:38:19. ↩︎
  23. Vgl. Saupe: Weitergabe und Wiedergabe (2021), S. 28. ↩︎
  24. Vgl. Nicole: Interview vom 04.12.2023, 00:48:12. ↩︎
  25. Vgl. Fabian: Interview vom 17.10.2024, 00:36:24. ↩︎
  26. Vgl. Schneider/Uhlig: Kulturanthropologische Brauch- und Ritualforschung (2024), S. 20. ↩︎
  27. Fabian: Interview vom 17.10.2024, 01:03:15. ↩︎
  28. Steffi: Interview vom 05.07.2024, 01:10:13. ↩︎
  29. Zur entspannenden Wirkung von DIY-Aktivitäten vgl. etwa Hilsberg, Pia-Marie: Echt selbstgemacht. Authentizität als ästhetische Erfahrung, Tübingen 2021, S. 130-133. ↩︎
  30. Vgl. Hirschfelder, Gunther: Mittsommer, Sonnenwende und Johannisfeuer im Rheinland zwischen Tradition und Inszenierung, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 50 (2005), S. 101-140, hier: S. 115. ↩︎
  31. Vgl. Winzheim, Malaika: Zusammen ist man nicht allein – wie junge Menschen feiern, Cloppenburg 2021, S. 9. Vgl.Gauntlett, David: Making is Connecting. The social meaning of creativity, from DIY and knitting to YouTube and Web 2.0, Cambridge 2011, S. 131, S. 161. Vgl. Rieder, Katrin: Was die Gemeinschaft zusammenhält. Teilhabe als Merkmal des immateriellen Kulturerbes, in: Nationaler Kulturdialog (Hg.): Kulturelle Teilhabe. Ein Handbuch, Zürich und Genf 2019, S. 143-154, hier: S. 145. ↩︎
  32. Vgl. Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2005, S. 42. ↩︎
  33. Vgl. Trummer, Manuel: Brauchinnovation zwischen Medien und Märkten, in: Drascek, Daniel/Wolf, Gabriele (Hg.): Bräuche : Medien : Transformationen. Zum Verhältnis von performativen Praktiken und medialen (Re-)Präsentationen, München 2016, S. 138-156, hier: S. 141. Vgl. zur Eventisierung von Bräuchen Hirschfelder, Gunther: Kultur im Spannungsfeld von Tradition, Ökonomie und Globalisierung. Die Metamorphosen der Weihnachtsmärkte, in: Zeitschrift für Volkskunde 110 (2014), S. 1-32, hier: S. 12. ↩︎
  34. Steffi: Interview vom 05.07.2024, 01:41:25. ↩︎

Michaela Stauber M.A.

Michaela Stauber, M.A., ist seit Oktober 2022 als Doktorandin im Rahmen des Projekts hand.gemacht am Freilandmuseum Oberpfalz beschäftigt. Sie studierte von 2016 bis 2022 an der Universität Regensburg Geschichte, Germanistik und Vergleichende Kulturwissenschaft sowie Public History und Kulturvermittlung.